LÜGE und WAHRHEIT
Meine Mutter konnte in einem Gespräch schnell entdecken, ob ihr Gegenüber die Wahrheit sagt oder lügt. Ihre lange Lebenserfahrung und ihre Intelligenz haben sie darin zur einer Meisterin werden lassen. Vor allem verfügte sie aber auch über ein gutes Gedächtnis und eine gute Beobachtungsgabe. Sie hat mich früh auf diese Problematik aufmerksam gemacht und so habe ich mich in der Folge ebenfalls viel mit der Frage Wahrheit oder Lüge beschäftigt. Speziell mein Aufenthalt in Wien war ein gutes Übungsfeld, sind doch die Wiener - wie viele andere Großstädter auch, speziell, wenn sie slawisch geprägt sind - dafür bekannt, dass sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. In einem persönlichen Gespräch ist es relativ leicht, einen Lügner zu enttarnen. Jeder kennt die non-verbalen Signale dafür:
In den frühen Jahren meines Lebens ist es mir sehr schwer gefallen, selbst zu lügen. Ich hatte große Skrupel und ich habe das Lügen vermieden, wenn es irgendwie möglich war. Erst durch den Aufenthalt in den USA wurde mir klar, du gehst leicht unter, wenn alle anderen lügen, also habe ich es gelernt und kann es inzwischen gut. Hilfreich waren dabei die Erfahrungen als Hobby-Schauspieler und langes Management-Training. Heute, am Ende eines langen Lebens, denke ich sehr viel differenzierter über die Frage Wahrheit und Lüge. Ich bin überzeugt, dass beide Vorgangsweisen notwendig sind, aber weiß auch, dass ein Umfeld, in dem wenig gelogen wird (oder werden muss) für mich viel angenehmer ist, weil es weniger Aufwand im Alltag bedeutet. Mit der Lüge ist es ähnlich, wie mit der Dummheit. Sie zu bekämpfen bringt wenig, es ist viel günstiger mit ihr zu leben. Denn wenn man die Lüge als solche durchschaut, dann kann man viel über Hintergründe einer Aussage erfahren. WARUM LÜGT JEMAND? Das ist doch die Kernfrage, um die es geht! Der Schauspieler lügt, um uns mit Illusionen zu unterhalten, die Religionen lügen, um uns zu trösten, Politiker lügen, um etwas zu erreichen (das uns aber dann nützen kann), Medien lügen, weil sie verkürzen müssen, Werbung lügt, weil sie nur mit Übertreibungen aufmerksam machen kann, Partner lügen uns an, weil sie uns schonen wollen, Unwissende lügen, weil auch sie Antworten und Erklärungen brauchen, Kinder lügen, weil sie uns ihre Fantasien mitteilen wollen, Ärzte belügen uns, weil sie uns damit beruhigen können, gelogen wird auch aus Scham, in einer Notsituation, zum Wohle des Belogenen. In dieser Liste sollte man das "Lügen" immer in Hochkommas schreiben, denn es ist ja im eigentlichen Sinne keine Verstellung, kein Betrug oder Ausnahme, es gehört eher zum Beruf oder Status der Personen dazu. Und diese Liste ist beileibe nicht komplett, es fällt allen Lesern leicht, weitere Beispiele zu finden. Wenn es so viele "Lügen" gibt, dann stellt sich doch die Frage, ob es "Wahrheit" gibt? Wie ich jung war, war mir das klar, natürlich gibt es die Wahrheit, sie war doch mein erstrebenswertes Ziel, deshalb habe ich studiert und viele Mühen auf mich genommen! Aber im Alter bin ich skeptischer. Es gibt sicherlich viel, was meist richtig ist. Aber wenn man genauer hinschaut, dann sind unzählige Einschränkungen zu sehen. Das Meiste gilt nur für kurze Zeit, nur an bestimmten Orten, nur unter bestimmten Randbedingungen, nur in speziellen Kulturkreisen, also alles sehr limitiert. Ich sage gerne, es gibt keine einzige Wahrheit und meine damit, dass man auch gar keinen Anspruch auf die Wahrheit haben sollte, denn ihr Wert ist auf die Dauer sehr gering. Mit diesen vielen Beispielen "professioneller Lügner" sollte es nun doch leicht sein, allgemeine Prinzipien für Lügen und Wahrheit herauszufinden. Genau dies will ich hier versuchen.
Der Hauptgrund für die Lüge wird der (meist nur kurzfristige) Vorteil dafür sein. Es wird bewusst die Unwahrheit gesagt, weil man damit besser fährt. Aber Lügen können auch Teil der Kultur sein. Wie oft am Tag lügen wir unbewusst, ich erinnere nur an "Wie geht's?", "Danke, gut!". Ich habe eine innere Warnlampe, die mich, ähnlich wie bei komplexen Situationen, daran erinnert, dass es bei dem Gebotenen um eine Lüge handeln kann.
In der Tat ist das Desinteresse der sicherste Schutz vor Manipulationen. Wer kein Interesse an mir, an meiner Meinung, an meinem Geld hat, der wird mich auch nicht belügen, das ist meine Schlussfolgerung aus einem langen Leben. Nun kann ich aber nicht nur diesen Menschen vertrauen, ich muss auch Partnern, im Privaten, wie im Beruf, vertrauen können, ich bin abhängig von vielen anderen Informationen, z.B. vom Wetterbericht oder Fahrplänen, ich muss mich auf Verträge verlassen können, lege mein Leben in die Hand von Betreuern und Ärzten oder vertraue Geheimnisse Freunden an. Wie entsteht nun das Vertrauen, dass ich die Wahrheit sehe oder höre? Auch hier wieder eine kleine, diesmal positive, Checkliste:
Als (ehemaliger) Lobbyist, Wissenschaftler, Manager, Leser, Ausländer, Kunde, und Familienmensch habe ich unzählige Varianten von Wahrheit und Lüge erlebt. Sie alle aufzuführen ist unmöglich, aber einige will ich erläutern, weil sie doch sehr häufig vorkommen und es immer noch Naive gibt, die drauf reinfallen. Schließlich soll man hier auch was lernen können. Zu Beginn zähle ich Lügen auf, die durch gekonnte Darstellung übermittelt werden. Absolute und relative ProzenteEin häufiger Darstellungsfehler, der besonders in der Medizinkommunikation zu verheerenden Fehlentscheidungen führen kann.Angenommen von 1000 Menschen bekommen drei Menschen eine spezielle Krankheit. Nun wird durch eine Massnahme (Medikament oder etwas anderes) diese Zahl auf zwei reduziert. Die Befürworter dieser Massnahme sprechen nun von einem Nutzen von 33 Prozent, in Wirklichkeit aber ist die Morbidität nur um 1 Promille gefallen. Mit diesem Wechselspiel von relativen und absoluten Prozenten kann man nun beliebig verwirren und damit auch bestens lügen, obwohl man doch immer die "Wahrheit gesagt" hat. Die großen ZahlenAlles was über 1000 ist, können wir uns nur schwer vorstellen. Was ist eine Million? Ein befreundeter Physiker erklärt dies immer mit dem Meterband. Ein Meter hat 1000 Millimeter, ein Kilometer damit 1.000.000 Millimeter. Aber selbst damit haben schon viele Probleme.Ganz versagen wir bei größeren Zahlen oder bei Einheiten, die wir uns nur schlecht vorstellen können. Nun könnte man meinen, das kommt in der Praxis kaum vor, aber dies stimmt nicht mehr. Unsere Kraftwerke produzieren Megawatt, unsere Datenspeicher speichern Gigabytes, ich brauche als Fotograf schon Speicher im Terabyte Bereich. Oft gibt es auch gleichlautende große und kleine Einheiten, die sich um den Faktor 1000 oder auch mehr unterscheiden. Bestes Beispiel dafür sind die Kalorien oder auch die Billion, die verschiedene Bedeutung haben. Sie alle fördern Verwirrung und öffnen das Tor zu Lügen. Die Physiker haben für diese Problem eine gute Lösung gefunden, nämlich die Notation mit Zehnerpotenzen. Aber sie setzt sich in der Allgemeinheit nicht durch, wahrscheinlich weil man damit nicht so gut lügen kann! Ein kleiner Prozentsatz einer großen ZahlEin beliebter Trick, um Prognosen plausibel zu machen und fast immer eine Lüge. Angenommen, in einer Stadt mit 100.000 Einwohnern wird ein neuer Laden eröffnet. Nimmt man nun an, dass "nur ein Prozent" in den Laden kommen wird, so hat man schon 1000 Kunden! Schön wär's!Auch die Umkehrung wird häufig angewandt. Füllt man z.B. einen Saal mit 100 Plätzen mit Zuhörern, von denen jeder "nur" 100 Euro Eintritt zahlt, dann hat man auf einen Schlag 10.000 Euro eingenommen. Auch dies ist oft Illusion. Große Wirkungen erreicht man in der Praxis nur durch "Kettenreaktionen" und dafür sind spezielle Umstände notwendig, die nur selten anzutreffen sind. Die Linearität und KontinuitätEs gibt in der Praxis außerhalb der Physik und Mathematik nur wenige lineare Zusammenhänge. Viel häufiger sind Schwingungen zwischen Minima und Maxima oder auch exponentielles Verhalten und damit S-Kurven.Jede Mutter weiß, dass zwei Kinder viel mehr Arbeit bedeuten, als das doppelte eines Kindes, auf zwei Gleisen kann man viel mehr als das Doppelte eines Gleises befördern, u.s.w. Wer also für Alltagsphänomene Linearität voraussetzt, was häufig vorkommt, lügt. Auch Kontinuität ist eher selten. Sicherlich ändert sich nicht alles dramatisch, aber viele kleine Änderungen sind ebenso schwer zu verkraften wie eine große Änderung. Wer nun die Vergangenheit unverändert fortschreibt, lügt deshalb oft. Die Verwirrung mit dem Massstab oder der BasisEs gibt dafür unzählige Beispiele, mit der Wahl des Massstabs lügen nicht nur Physiker, sondern auch Statistiker, Finanzexperten und natürlich auch Politiker.So sind hohe Zuwachsraten am Beginn einer Entwicklung stets irreführend. Mit logarithmischen Massstäben kann vor allem Laien beeindrucken. Bei Vergleichen, z.B. von Börsenkurven, legt man die Performance vor allem durch die geschickte Wahl des Beginn des Vergleiches fest. Ich kann mir weitere Beispiele hier sparen, aber muss den Punkt doch erwähnen, weil er so oft vorkommt. Ursache und WirkungIn dieser Kategorie kommt es weniger auf die Darstellung an, als auf Absichten. Für die Naturwissenschaftler ist diese Frage meist kein Problem und für viele Zusammenhänge haben sie sogar Gesetze, die präzise Vorhersagen ermöglichen.Aber für viele Alltagsphänomene haben wir keine Gesetze, zumindest keine, die mit großer Wahrscheinlichkeit gelten und auf die wir uns verlassen könnten. Dieser Zustand ist für uns Menschen unbefriedigend und wir reagieren in verschiedener Form darauf. Die häufigste Antwort ist, dass wir Zusammenhänge erfinden, die es ursächlich gar nicht gibt. Diese Theorien mögen gar nicht stimmen, aber sie befriedigen unser Bedürfnis nach Erklärungen. Aber mindestens ebenso häufig sehen wir die schon existierenden Abhängigkeiten nicht. Manchmal sind große Zeitabstände die Ursache dafür, manchmal aber ist es auch nur der Wunsch, Folgen eigener Entscheidungen zu verdrängen.
An dieser Stelle will ich für diese Alltagssituationen Beispiele nennen, die besser sensibilisieren sollen, nicht in diese Fallen der Ursache-Wirkung Erklärung zu tappen. Große Katastrophen wollen stets erklärt werden. Früher hat man sie als Strafe Gottes angesehen und dadurch auch leicht Schuldige gefunden. Juden Progrome und Hexenverbrennungen sind historische Beispiele dafür. Aber auch in unserer aufgeklärten Zeit gibt es ähnliche, falsche Erklärungen. So muss heute der "Kimawandel" für jedes besonders schlechte, wie auch gute Wetter herhalten. Alle Lösungen für Strukturprobleme etablierter Wirtschaften werden mit der Gefahr des"Neoliberalismus" abgeblockt. Hat man technische Entwicklungen verpennt, dann ist die "Globalisierung" schuld. Ebenso tragisch ist aber auch die Verdrängung von Zusammenhängen, die wir nicht wahrnehmen wollen. So wird ein Wahlergebnis kaum mit einer wirtschaftlichen Krise in Zusammenhang gebracht, vor allem wenn man die an der Macht selbst gewählt hat. Wer die katastrophalen Zustände in Afrika mit noch mehr Entwicklungshilfe lindern will, vergisst gerne, dass diese eine Hauptursache für diese Not ist. Manchmal sind die Zusammenhänge ja tatsächlich so kompliziert, dass man verzeihen könnte, dass jemand hier falsch liegt. Aber meist ist es nur Blindheit, z.B. durch Ideologie, die vor Einsicht schützt. Glauben-zu-wollen oder Nicht-Glauben-zu-wollen helfen bestens beim Verdrängen der Realität und schützen vor einer Analyse, deren Ergebnisse man gar nicht hören will. Motherhood Statements (Slogans)Wir haben keinen guten deutschen Begriffe für diese Aussagen, bei denen sich jeder gut fühlt, die man selbstverständlich unterstützen muss, die nicht konkret sind und daher entweder lügen oder wertlos sind.Vielleicht kommen Gemeinplatz oder Plattitüde (Platitude) den "Motherhood Statements" noch am nähesten, aber ihnen fehlt das gute Gefühl, das man damit erzeugt. Wer ist nicht für "Wohlstand für Alle", den "Beitrag zum Weltfrieden" oder "Soziale Gerechtigkeit"? Niemand, also kann man unter solchen Schutzschirmen bestens für seine eigenen Interessen lügen. Denn wer würde es schon wagen, diese guten Absichten öffentlich in Frage zu stellen? Wem es gelingt solche Slogans zu erfinden, der kann große Macht ausüben, aber auch damit viele mit dem Populismus ins Verderben treiben. Die Kunst bei der Auswahl darin liegt, das Gefühl einer großen Anzahl von Menschen in prägnante Worte oder kurze Sprüche fassen zu können. Ich habe dies am Thema "Rauchen" dreißig Jahre lange beobachtet. Alle Bemühungen, gegen diese Sucht vorzugehen, waren vergebens, erst als der Slogan "Nichtraucherschutz" populär wurde, kam es zu Handlungen durch die Politik. Will man gegen Slogans vorgehen, dann gelingt es am ehesten mit Gegenslogans, weniger mit Beweisen oder gar mit Vernunft. Wer also keine "Freie Fahrt für freie Bürger" mehr haben will, der "Rettet die Erde" mit Tempo 130 auf deutschen Autobahnen. Es war einmal, es wird einmal sein, es ist weit wegBei der Erklärung der Vergangenheit, bei langfristigen Prognosen und bei Berichten aus anderen Kulturen erwarte ich gar keinen Wahrheitswert mehr. Ich nehme sie als Fiction, die mich unterhält und animiert und es überrascht mich auch nicht mehr, wenn die bisherigen Erklärungen alle falsch waren, wenn die Prognosen nicht eintreffen und wenn man die Ereignisse weit weg beim persönlichen Besuch nicht mehr antrifft.Fantasie, Illusionen, Glaube und Hoffnung sind wichtig für uns. Man sollte sie nicht mit der Bürde der Wahrheit belasten. |
ZusammenfassungMöglicherweise habe auch ich mit diesem Beitrag mehr verwirrt als aufgeklärt. Deshalb ist eine kurze Zusammenfassung vielleicht ganz nützlich.Es wird immer Lügen geben müssen und es kann keine absolute Verlässlichkeit auf Wahrheit geben. Also werden wir lernen müssen, mit diesen Misslichkeiten zu leben. Aber wir haben als lernende Menschen ein gutes Instrumentarium entwickelt, damit erfolgreich umzugehen. So sind wir skeptisch geblieben, besonders wenn es zu gut klingt, um wahr zu sein, wir hinterfragen, wir nützen Redundanz, verlassen uns also nicht nur auf eine Quelle oder ein Standbein. Wir planen Puffer ein, legen Vorräte an, damit Überraschungen oder auch Lügen uns nicht gleich in unserer Existenz bedrohen. Ich selbst bemühe mich, im meinem direkten Umfeld in der Familie tatsächlich ehrlich zu sein und weiß es wenigstens noch, wenn ich zur Unterhaltung oder bei Komplimenten übertreibe und damit auch lüge. Ich lüge aber durch Weglassen und habe dabei kein schlechtes Gewissen mehr und ich lüge auch, wenn ich selbst offensichtlich belogen werde . Ich lüge teilweise auch mit meinen vielen Fotos. Meist in dem ich Hässliches weglasse (das geht leicht durch die Wahl des richtigen Ausschnitts), aber auch in dem ich Sonne (=Helligkeit) dazu füge. Aber ich mache keine Bildmanipulationen. Trotzdem ist es sehr einfach mit Fotos zu lügen. Da ein Bild mehr als 1000 Worte sagt, kann man damit auch sehr effizient die "Wahrheit massieren" und manipulieren. Gefährlich wird die eigene Lüge (jetzt abgesehen von den Lügen, die als kriminelles Delikt geahndet werden können, die sind immer gefährlich), wenn man selbst an sie zu glauben beginnt. Übrigens erscheint es mir etwa gleichermaßen schwierig zu sein, die Wahrheit zu sagen, wenn man verlogen ist, wie zu lügen, wenn man wahrheitsbewußt sein will. Aber auch die Wahrheit hat ihre Tücken. Mir sind Menschen suspekt, die behaupten wahrhaftig zu sein und ich meide sie. Lieber ist es mir, wenn Menschen offen sind und den Konflikt, der in ihnen zwischen Lüge und Wahrheit steckt, äußern. Dies würde ich dann ehrlich nennen, auch wenn es nicht die landläufige Definition davon ist. Wahrheit ist oft unmenschlich. Ihr Anspruch ändert sich oft. Je länger wir leben und je mehr sich das Umfeld ändert, desto mehr werden wir Absolution, Amnestie oder Vergessen, Vergebung und Verzeihung brauchen. |
Gefällt mir, die Lüge und die Wahrheit sind wie zwei Seiten einer Medaille, sie gehören zusammen. Wer möchte immer die Wahrheit hören? Oft ist es angenehmer, belogen zu werden, es bleibt ein bißchen mehr Hoffnung.
AntwortenLöschenAlles gut gesagt. Danke.
Vielen Dank für den freundlichen Kommentar!
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